Lesetipp: „Über Leichen gehen“ von Elke Wittich

Vor etwas mehr als 100 Jahren, im Februar 1916, begann die Schlacht von Verdun. Elke Wittich hat darüber in der Jungle World geschrieben: Über Leichen gehen.

Da ich selbst vorletztes Jahr ebenfalls Verdun und die ehemaligen Schlachtfelder besichtigt habe (Urlaubsbericht 2014, über den Tag in Verdun wird ganz unten berichtet), fühlte ich mich an vieles erinnert, was ich schon kannte: an das riesige Ossuaire, an das zerstörte Dorf Fleury-devant-Douaumont, an die Schilder an den Wegen, die davor warnten, die Wege zu verlassen, weil im Wald immer noch Munition liegt, die nicht geborgen werden konnte und die explodieren kann, wenn man darauf tritt. Auch an den zerfurchten Waldboden, in dem die Granatentrichter immer noch zu sehen sind, kann ich mich noch erinnern. (An einer Informationstafel am Chemin des Dames wurde erklärt, dass die Wurzeln der Bäume verhindern, dass der Boden sich wieder einebnet.) Ich habe gelernt, Granatentrichter an ihrer Kreisform zu erkennen.

Elke Wittich macht auf das Ausmaß der Zerstörung aufmerksam, das der Überfall der Deutschen verursacht hat. Auch hundert Jahre später liegen nicht nur Blindgänger im Boden, sondern vor allem giftige Metalle, die in den Umhüllungen der Granaten verwendet wurden, und die Überreste der Giftgranaten. Dies gilt nicht nur für die Schlachtfelder von Verdun, sondern auch für die Schlachtfelder an der Aisne und an der Somme. In Ieper (Ypern) habe ich noch keine solchen Stellen gefunden, aber auch dort finden Bauern noch jedes Frühjahr Blindgänger und müssen dann erst einmal die Kampfmittelbeseitigung anrufen.

Neun Dörfer sind zerstört worden: Beaumont, Bezonvaux, Douaumont, Louvemont, Fleury-devant-Douaumont, Haumont, Ornes, Vaux und Cumières. (Der Text erweckt den Eindruck, als seien es nur acht Dörfer und als hieße das letzte Vaux-et-Cumières.) Sechs davon wurden nicht wieder aufgebaut. Ich habe einige französischsprachige Seiten gefunden, die über diese Dörfer informieren. Auch ein Vorschlag für eine Rundtour ist dabei: Der Weltkriegstourismus treibt manchmal eigenartige Blüten (allerdings schlimmer an der Somme als in Verdun, vor allem wegen der britischen Touristen.)

http://www.tourisme-verdun.fr/villages-detruits.php

Klicke, um auf brochure_meuse.pdf zuzugreifen

http://verdun2016.centenaire.org/fr/villages-detruits

Das größte Verdienst des Textes von Elke Wittich besteht darin, dass sie an das Leiden auf französischer Seite erinnert. Mein Eindruck in meinem privaten Umfeld ist der, dass die meisten, was den Ersten Weltkrieg anbelangt, vor allem an „Im Westen nichts Neues“ denken (das auch in Frankreich gelesen wird), dass sie an Schützengräben denken, aber nicht an die Versuche, die Front zu durchbrechen, die zu Materialschlachten mit Hunderttausenden Toten führten. (Häufig findet man nur Verlustangaben, die auch Verwundete und Vermisste einschließen: mehr als eine halbe Million, wenn man die Verluste beider Seiten zusammennimmt. Allerdings lassen sich im Internet auch höhere Zahlen finden, ich kann aber nicht auf die Schnelle entscheiden, was davon vertrauenswürdig ist.) An Verdun erinnert man sich vor allem als Symbol der schrecklichsten Schlacht des Krieges, der Knochenmühle, die laut Oberbefehlshaber Falkenhayn Frankreich weißbluten lassen sollte. Aber viele erinnern sich überhaupt nicht mehr, oder sie erinnern sich nur noch an Verdun als an ein Sinnbild der Schrecken des Krieges, wissen aber nicht mehr, wer den Angriff begonnen hat, was er bewirken sollte oder wie die Angelegenheit ausgegangen ist. (Bis zum Juni gelang es den Deutschen, die Front in Richtung Verdun zu verschieben – ein paar Kilometer weit. Nach dem Beginn der Schlacht an der Somme fehlte ihnen die Kraft für weitere Offensiven, und sie wurden bis zum Dezember mehr oder weniger in ihre Ausgangspositionen zurückgedrängt. Die Festungen von Vaux und Douaumont befanden sich wieder in französicher Hand.)

Mehrfach habe ich erlebt, dass es auf Unverständnis stößt, dass die Erinnerung in Frankreich viel lebendiger ist. Auch dass Frankreich im Ersten Weltkrieg höhere Verluste hatte als im Zweiten, wissen die wenigsten. Umgekehrt stößt die deutsche Erinnerungslosigkeit auf Unverständnis: Vorletztes Jahr im November erzählte uns die Französischlehrerin am 11. November, dass in Frankreich Feiertag sei, und fragte uns, ob wir wüssten, aus welchem Anlass. Ich rettete die Ehre des Kurses, indem ich es wusste: Tag des Waffenstillstands des Ersten Weltkriegs. (Dass in Deutschland praktisch zeitgleich, also nicht um elf, sondern um elf Uhr elf, der Beginn des Karnevals gefeiert wird, ist unter diesen Umständen eigentlich ziemlich peinlich.)

In Deutschland erinnert man sich an die Reparationszahlungen, die angeblich für die wirtschaftliche Misere und für den Aufstieg Hitlers verantwortlich gewesen sein sollen, und reproduziert dadurch einen Mythos, der den Aufstieg Hitlers möglich gemacht und der zu seiner Beliebtheit beigetragen hat: Dass die wirtschaftliche Misere ihre Ursache in den Reparationszahlungen hatte und dass die Einstellung der Reparationszahlungen eine der großen Leistungen Hitlers gewesen sei. Nach dem Krieg wurde dieser Mythos verändert: Hitler wurde nun verdammt, aber man selbst war unschuldig: Wären die Reparationszahlungen nicht gewesen, hätte  man ihn nie gewählt.

Was Deutschland in Frankreich angerichtet hatte, interessierte nicht. Dass die Schäden in hundert Jahren nicht beseitigt sein würden, war nicht vorauszusehen, aber dass die Reparationszahlungen sich über hundert Jahre erstrecken sollten, machte die Menschen wütend. (Dabei sollten die Zahlungen gestreckt werden, um Deutschland zu entlasten.)

In der Innenstadt von Verdun findet sich eine Gedenkstätte, die allen gewidmet ist, die vor Verdun gekämpft haben, also auch den Überlebenden. In jener Gedenkstätte war auch ein deutsches Propagandaplakat ausgestellt. Auf ihm waren Artillerie und brennende Häuser zu sehen. Text: Unsere Soldaten halten den Krieg von Deutschlands Grenzen fern. Was man selbst anderswo angerichtet hat, wird gerne ausgeblendet, auch heute noch.

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