Kein außen oder innen oder vorher

Ich habe mich durch „Gender Trouble“ von Judith Butler hindurchgearbeitet, allerdings in der deutschen Version („das Unbehagen der Geschlechter“.) Ich weiß sehr wohl, dass einmal lesen nicht reicht, um solch ein Buch zu verstehen, und ich plane, es noch einmal zu lesen und dabei dann Notizen zu machen und die Argumentation nachzuvollziehen. Dieses Mal habe ich nur hin und wieder in unregelmäßigen Abständen meine Leseeindrücke aufgeschrieben.

Ich lese ein Buch gerne beim ersten Mal schnell, weil ich dann besser weiß, was die Hauptsache ist und mich nicht in Details verliere, wie wenn ich von Anfang an detaillierte Notizen mache. Allerdings war es nicht möglich, „Gender Trouble“ schnell zu lesen: Manchmal brauchte ich eine halbe Stunde für eine einzige Seite.

Ein paar Punkte sind mir aber auch beim Lesen ohne Notizen aufgefallen, und diese möchte ich aufschreiben, um sie zur Diskussion zu stellen. Vielleicht zuerst einen Satz, der mir das zentrale Argument des Textes darzustellen scheint:

Damit stellt sich die Frage, ob man die Demarkation des Körpers als solchen auch dann noch genealogisch als Bezeichnugspraxis darstellen kann, wenn man die Voraussetzung einer vorkategorialen Störquelle ablehnt. (S. 193)

Das heißt, die Annahme von etwas außerhalb der Kategorien, was möglicherweise stören könnte, wird abgelehnt.

Ich habe andere, ähnliche Sätze gefunden: nichts existiert außerhalb des Diskurses, außerhalb der Kategorien, außerhalb des Gesetzes oder der Sprache… die Theorien ändern sich, aber der Gedanke ist immer derselbe: Jenseits von dem, was Teil des menschlichen Sprechens und Denkens ist, gibt es nichts. Auch das, was scheinbar ausgeschlossen ist, wird durch Sprache und Gesetzt konstituiert.

Dies heißt auch, dass es kein vorher gibt: Es gibt keine Welt, die existiert, bevor sie durch Diskurse bezeichnet wird, es gibt aber auch kein „ursprüngliches“ Subjekt und kein Selbst, bevor es nicht im Diskurs entsteht und zu dem wird, was es ist. Das heißt auch, dass Subjekt und Selbst nicht irgendwie innerhalb (etwa innerhalb des Körpers) lokalisiert sind, sondern an der Körperoberfläche, wo der Diskurs dem Körper sein selbst eingeschrieben hat.

Es war für mich zunächst ein sehr spannender Gedanke, den ich weder beweisen oder widerlegen könnte (jedenfalls nicht auf die Schnelle), der aber herausfordert: Was folgt, wenn ich radikal auf alles verzichte, was außerhalb von Sprache und Diskurs liegt? Was folgt etwa, wenn ich darauf verzichte, mit einem „wahren“ oder „ursprünglichen“ Selbst zu argumentieren, das unabhängig vom Diskurs existiert und diesem vorausgeht?

Es bedeutet vor allem die Aufforderung zu Misstrauen gegenüber allen, die behaupten, sie wüssten, was das Vorher oder Außen oder Innen sei, insbesondere, was das wahre, ursprüngliche Selbst ist, das innerhalb der Körper und innerhalb der Masken und Rollen lokalisiert wird.

(Für mich selbst, mit meiner Überdosis an Selbsterfahrungsseminaren, die ich zu einem bestimmten Zeitpunkt meines Lebens mitgemacht habe, folgt vor allem, dass kein ursprüngliches Wesen in mir gibt, was sich irgendwie entfalten möchte, sondern dass ich das Produkt der Einflüsse um mich herum bin.)

Andererseits stellt sich die Frage, woher Veränderungen kommen (die ja objektiv stattgefunden haben.) Wenn es nur den Diskurs und das Gesetz gibt, woher kommt es dann, dass nicht immer alles beim gleichen bleibt, sondern dass Menschen, die doch durch den Diskurs bestimmt sind, hin und wieder dagegen aufbegehren und Veränderungen wünschen?

Von wo aus kann den Diskurs kritisieren, wenn nicht von außen, oder von innen der eigenen Gefühle aus?

Als Erklärung für Veränderungen und mögliche Kritik am Diskurs bleibt noch, dass es innerhalb des Diskurses Widersprüche gibt.

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So weit ein paar erste Gedanken zu dem, was mir der zentrale Punkt des Buches erscheint.

In der Jungle World habe ich nun einen sehr langen, sehr kritischen Artikel gefunden, der sich gerade mit diesem Punkt auseinandersetzt, der Judith Butler also nicht wegen irgendwelcher Bemerkungen angreift, sondern wegen eines zentralen Punkts ihres Werks: Kein Objekt, Nirgends.

Der Artikel ist lesenswert, auch wenn ich nicht jedem Punkt zustimme. (Zum Beispiel halte ich seine Position zu Israel für zu einfach, und der Anfang ist mir zu polemisch.) Interessant bleibt aber doch, dass eine Frage wie die, ob es nun etwas außerhalb oder vor dem Diskurs geben könnte, nicht wirklich durch Argumente widerlegt werden kann. Der Artikel widerspricht Judith Butler und nimmt die Gegenposition ein, ohne wirklich sagen zu können worin sie falsch liegt.

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Israel, und die Frage, ob der Adorno-Preis verdient ist… Ich habe die Debatte verfolgt: am besten man gibt auf der Seite von Jungle World „Judith Butler“ ein, dann erhält man Links zu den relevanten Artikeln. Nachdem ich Butlers Stellungnahme in der ZEIT und außerdem die Website der Kampagne BDS gefunden habe, habe ich jedoch beschlossen, keine umfangreiche Linkliste aufzustellen: Diesen Äußerungen zu widersprechen ist so einfach, dass ich es selbst tun kann, quasi als thrakische Magd (siehe Die Philosophin im Brunnen von Micha Brumlik) und nicht erst auf andere Größen verweisen muss.

Hier also die Links zu den Texten, auf die ich mich beziehe:

Diese Antisemitismus-Vorwürfe sind verleumderisch und haltlos (Judith Butlers Verteidigung gegen die Vorwürfe, die gegen sie gerichtet waren.)

Palestinian Civil Society Call for BDS (Text der Gruppe, die zum Boykott von Israel aufruft und die von Judith Butler unterstützt wird.)

Von Judith Butlers Verteidigung gegen die Vorwürfe, die gegen sie gerichtet sind, will ich mich nur mit dem Teil beschäftigen, in dem sie auf die Vorwürfe eingeht. (Auf Diskussionen, ob man Israel kritisieren darf, und ob auch Juden dies tun dürfen, und ob man ein selbsthassender jüdischer Antisemit sei, wenn man im Widerspruch zur aktuellen Politik der israelischen Regierung steht, will ich mich im Moment nicht einlassen.)

1. Die Äußerungen zu Hisbolla und Hamas:
Ich sehe hier zwei Hauptaussagen: a) Hamas und Hisbollah gehören zur globalen Linken, weil sie antiimperialistisch uasgerichtet sind, und b) Judith Butler unterstützt die beide Gruppen nicht, weil sie auch gewalttätige Mittel verwenden.

Ich fange mit dem zweiten Punkt an: Die Mittel, die eine Gruppe anwendet, um ihre Ziele zu erreichen, sind nicht das einzige Kriterium, um zu beurteilen, ob man diese Gruppe unterstützen oder nicht unterstützen muss. Natürlich ist die Gewaltbereitschaft von Hamas un Hisbollah ein Ausschlusskriterium – aber wichtiger sind die Ziele, die diese Organisationen verfolgen.

Der erste Punkt ist der, dass Butler diese Gruppen „links“ im politischen Spektrum verortet, weil sie antiimperialistisch ausgerichtet seien. Ich bin mir nun im klaren darüber, dass es keine einfache Definition gibt, was „links“ nun eigentlich heißt, aber das scheint mir doch sehr vereinfachend, nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist ein Freund.“ Dass es Situationen mit mehr als zwei Parteien gibt, kommt in dieser Art zu denken nicht vor, abgesehen davon, dass „Gegner der USA und Israels“ doch nicht wirklich etwas sein kann, wofür man Organisationen mögen kann. Beides sind doch erst einmal sehr viele Menschen, die in diesen Ländern leben.

2. Die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions

In diesem Fall ruft wird nicht zu Gewalt aufgerufen, also hält Judith Butler die Kampagne für unterstützenswert. Sie trifft dann weitere Unterscheidungen, welche der von BDS verwendeten Methoden sie für unterstützenswert hält oder nicht, was begrüßenswert ist, aber am Ende geht es wieder nur um die Methoden, nicht um die Ziele der Gruppe, und das reicht m.E. nicht. Sie beschreibt ihre eigenen Wünsche für Israel, an denen nichts auszusetzen ist, außer dass sie sich keine Gedanken gemacht hat darüber, wie realistisch sie zur Zeit sind und was ein gangbarer Weg ist.

Ich habe mir jetzt also den Aufruf von BDS angesehen, und da bekomme ich Zweifel, ob das Ziel dieser Gruppe wirklich ein Zusammenleben mit Israel ist und ob sie sich Gedanken darüber gemacht haben, wie man dahin kommt. Zweifeln lassen mich vor allem Sätze wie „Fifty seven years after the state of Israel was built mainly on land ethnically cleansed of its Palestinian owners, a majority of Palestinians are refugees, most of whom are stateless.“ Wenigstens wird nicht direkt von Völkermord, sondern von ethnischen Säuberungen gesprochen, aber es ist doch wieder die typische Umkehrung zu sehen: Israel wird vorgeworfen, was Juden erlitten haben. Abgesehen davon, dass die Behauptung nicht stimmt: Nicht alle Menschen flohen, und die die blieben, wohnen jetzt in Israel: es gab keine „ethnischen Säuberungen“.

Wenn ich solche Sätze lese, bekomme ich den Eindruck, dass es diesen Menschen am liebsten wäre, Israel würde gar nicht existieren, und dass dies ihre Vorstellung von der besten Lösung wäre.

Das andere, was mich stutzig machte, war der 3. Punkt der Forderungen, die die Gruppe aufstellt: „3. Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN resolution 194.“

Auch hier denke ich wieder: das ist keine Gruppe, der es um Frieden geht. Das Problem der Flüchtlinge von 1948 ist einer der schwierigsten Punkte bei Friedensverhandlungen, weil es in ihm ganz stark um Symbolik geht. (Der andere schwierige Punkt ist Jerusalem.) Eine Gruppe, der es um Frieden geht, würde Vorschläge machen, wie diese Frage gelöst werden kann und nicht die Maximalforderung der palästinensischen Seite durchsetzen wollen, ohne die Ängste zu berücksichtigen, die eine solche Forderung in Israel auslöst.

Judith Butler nennt sich naiv, aber nicht gefährlich. Mein Eindruck ist eher: Gefährlich naiv.

P.S.

Ich habe noch einmal in der Jungle World nach Beiträgen gesucht und festgestellt, dass diese nicht so einfach zu finden sind: Größtenteils verstecken sie sich im Jungleblog. Die meisten von ihnen sind von Thomas von der Osten-Sacken, ich habe mal den rausgesucht, der die ganze Debatte ausgelöst hat: Adorno-Preis für Hamas-Fan. Von dort aus gelangt man auch zu Interviews mit Noam Chomsky und Norman Finkelstein, beides Menschen, die der israelischen Politik kritisch gegenüberstehen und die BDS trotzdem ablehnen.

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28 Antworten zu Kein außen oder innen oder vorher

  1. kimberra schreibt:

    Es bedeutet vor allem die Aufforderung zu Misstrauen gegenüber allen, die behaupten, sie wüssten, was das Vorher oder Außen oder Innen sei, insbesondere, was das wahre, ursprüngliche Selbst ist, das innerhalb der Körper und innerhalb der Masken und Rollen lokalisiert wird. Ich habe ja immer gedacht, dass ungefähr das der Kern der Gender Theory von Butler sei, weniger die Erkenntnistheorie oder gar Ontologie des Diskurses. Deshalb habe ich Butler auch nie so verstanden, dass sie praktisch von außen den Diskurs beschrieben wollte, sondern eher so, als ob sie immer schon einen Ort darin hat und nun überlegt, wie feministische Politik (ihr Ort) noch weiter zu treiben ist. Ihre Lösung war – aus meiner Sicht – statt Fragen der Weiblichkeit (Weiblichkeit vs. Autonomie / Rechte?, Beziehung vs. Macht?) Fragen der Zweigeschlechtlichkeit oder genauer: der verdrängten und tabuisierten Homosexualität zu stellen. Wieso, fragt sie Freud, sind alle Menschen bisexuell, es könnte doch auch Menschen geben, die sich für das andere Geschlecht gar nicht interessieren. Was wird dann aus ‚Geschlecht‘, so wie es ganz viele Menschen bislang verstanden haben? Insofern bietet sie eine Verschiebung des Diskurses über Geschlecht an, eine Spielerei und neue Möglichkeiten, gender zu verstehen.

    Vielleicht liege ich mit all dem aber auch schief und Butler interessiert sich vielmehr dafür, Körper und Triebe aus dem Diskurs auszuschließen (oder eben Objekte). Ich bin mir nicht sicher, aber ich fände die erste Variante zumindest interessanter.

  2. susanna14 schreibt:

    Ich glaube, es geht um mehr als Misstrauen gegenüber allen, die behaupten, sie wüssten, was das wahre Selbst von Frauen oder Männern ist. (Dieses Misstrauen kannst du auch in den Texten von Antje Schrupp finden, die aber trotzdem davon ausgeht, dass es unterschiedliche Körper gibt und dass dieser körperliche Unterschied Konsequenzen hat.)

    Die Erkenntnistheorie und Ontologie braucht sie meiner Meinung nach, um ihre Position zu begründen. Immerhin ist es ja eine ziemlich gewagte Behauptung, die (prinzipielle) Zweigeschlechtlichkeit des Menschen in Frage zu stellen, und zwar selbst auf der körperlichen Ebene. (Prinzipiell, weil es eben auch Hermaphroditen wie Alexina/Herculine gibt.) Sie braucht sie auch, um zu rechtfertigen, dass sie sich auf den Diskurs beschränkt und sich um irgendwelche Forschungen zu natürlichen Unterschieden (die ja regelmäßig veröffentlicht und von diversen biologistisch argumentierenden Antifeministen in die Diskussion eingebracht werden) nicht zu kümmern braucht.

    Dass auch der gängige Diskurs über Männer und Frauen und überhaupt die Geschlechtlichkeit des Menschen noch vieler Interventionen bedarf und daher ein dankbares Feld für Politik ist, steht außer Frage. Ich bin mir dabei noch nicht sicher, ob Butlers Vorschlag, mit „Parodien“ den Diskurs zu unterhöhlen, der beste ist – ich mochte das Kapitel über Monique WIttig am liebsten und überlege mir, ob ich versuchen soll, Texte von Wittig zu finden.

    Ob es in pragmatischer Hinsicht sinnvoll ist, statt nach Weiblichkeit zu fragen die Zweigeschlechtlichkeit in Frage zu stellen, weiß ich noch nicht. Als ich anfing, das „Gender Trouble“ zu lesen, dachte ich vor allem: das ist jetzt die Gegenreaktion auf den Differenzfeminismus der Achtziger, und vielleicht auch der frühen Neunziger, und ohne diesen Differenzfeminimus mit seiner Suche nach Frauen in Geschichte, Kunst, Literatur, Philosophie und eben auch nach feministischer Wissenschaftskritik und Wissenschaft (inklusive feministischer Kritik an den Naturwissenschaften) nicht zu verstehen. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Buch, das damals ziemlich bekannt war, „In a Different Voice“ von Carol Gillican über die weibliche Moralentwicklung – ich weiß gar nicht, ob das heute überhaupt noch bekannt ist.

    An die Stelle, wo sie Freuds Annahme der ursprünglichen Bisexualität in Frage stellt, kann ich mich jetzt nicht erinnern, aber wie gesagt, ich habe das Buch gelesen, ohne regelmäßig Notizen zu machen, nur hin und wieder nach einem Kapitel, wenn mir gerade danach war. Was ich in Erinnerung habe: dass sie die Annahme von irgendeiner ursprünglichen sexuellen Orientierung sowieso ausschließt, sei diese nun bisexuell oder nur auf das eine oder andere Geschlecht gerichtet. Es gibt keine ursprüngliche Orientierung, sondern sie ist immer vom Diskurs bestimmt.

    Zwischendurch (vor allem im zweiten Teil) habe ich auch gedacht, dass es Butler mehr um Homosexualität als um Feminismus geht. Am Ende war ich mir nicht mehr sicher.

    Ich weiß nicht, wofür sich Butler am meisten interessiert (in den letzten Jahren interessiert sie sich anscheinend mehr für allgemeine Politik und für andere Unterdrückungszusammenhänge als die von Frauen und Homosexuellen), aber ohne dass sie erklärt, dass es keine Körper außerhalb des Diskursess gibt, bricht ihre Argumentation zusammen.

  3. Chomsky schreibt:

    Hallo Susanna14

    Du schreibst:

    Ein paar Punkte sind mir aber auch beim Lesen ohne Notizen aufgefallen, und diese möchte ich aufschreiben, um sie zur Diskussion zu stellen. Vielleicht zuerst einen Satz, der mir das zentrale Argument des Textes darzustellen scheint:

    Damit stellt sich die Frage, ob man die Demarkation des Körpers als solchen auch dann noch genealogisch als Bezeichnugspraxis darstellen kann, wenn man die Voraussetzung einer vorkategorialen Störquelle ablehnt. (S. 193)

    Das heißt, die Annahme von etwas außerhalb der Kategorien, was möglicherweise stören könnte, wird abgelehnt.

    Kommentar:

    Nun wäre ja für mich da schon die Frage, was eigentlich eine „Störquelle“ oder „vorkategoriale Störquelle“ ist. Also irgendwie kann ich mir darunter noch nicht so viel vorstellen, was Butler meint.

    Du schreibst:

    Ich habe andere, ähnliche Sätze gefunden: nichts existiert außerhalb des Diskurses, außerhalb der Kategorien, außerhalb des Gesetzes oder der Sprache… die Theorien ändern sich, aber der Gedanke ist immer derselbe: Jenseits von dem, was Teil des menschlichen Sprechens und Denkens ist, gibt es nichts. Auch das, was scheinbar ausgeschlossen ist, wird durch Sprache und Gesetzt konstituiert.

    Kommentar:

    Spätestens, wenn Dir ein Dachziegel auf den Kopf fällt, merkst Du dann, dass es doch noch etwas was gibt, was ausserhalb der Sprache existiert. Selbstverständlich kannst Du das „etwas“, das Dir auf den Kopf fällt, auch anders nennen als „Dachziegel“, aber etwas, das auch ausserhalb der Sprache existiert, hat Dir dann eben eine Schädelfraktur zugefügt: Es blutet ev. und Du hast Schmerzen und stirbst ev. daran. Auch wenn wir keine Klassifizierungen mittels Sprache machen würden, wie Blut, Schädelfraktur, blutet, Schmerzen und sterben etc., wirst Du Empfindungen haben. Du kannst sie zwar nicht benennen, aber es ist ja nun wirklich offensichtlich, dass ausserhalb der Sprache etwas existiert. Nun: Butler würde selbstverständlich auch sagen, dass ausserhalb der Sprache etwas existiert. Materialisierung mittels Sprache heisst bei ihr ja nicht, dass es nix ausserhalb der Sprache geben würde, mit Materialisierung meint sie ja nur, dass es quasi eine Bedeutung für den Menschen erhält und somit eben existent für das Bewusstsein wird.

    Du schreibst:

    Dies heißt auch, dass es kein vorher gibt: Es gibt keine Welt, die existiert, bevor sie durch Diskurse bezeichnet wird, es gibt aber auch kein “ursprüngliches” Subjekt und kein Selbst, bevor es nicht im Diskurs entsteht und zu dem wird, was es ist. Das heißt auch, dass Subjekt und Selbst nicht irgendwie innerhalb (etwa innerhalb des Körpers) lokalisiert sind, sondern an der Körperoberfläche, wo der Diskurs dem Körper sein selbst eingeschrieben hat.

    Kommentar:

    Ja, würde auch sagen, dass der Mensch sich eben nur als Subjekt konstituiert mittels anderer Menschen, aber die Interaktion muss hier nicht unbedingt sprachlich sein, und dass er sich dann eher in einer kollektiven oder individuellen Identiät erfährt. Nur wäre ja dann die Frage, was genau unter Subjekt verstanden wird. Angst, Wut, Scham, Trauer, Hunger, Durst, Sexualität etc. haben offenbar eine biologische Basis und die ist universal: somit auch eine Ontogenese und Phylogenese und somit etwas, das eben nicht sprachlich konstituiert wurde. Aber eben: Man müsste zuerst wissen, was Butler genau unter Subjekt subsumiert oder versteht.

    Du schreibst:

    Es war für mich zunächst ein sehr spannender Gedanke, den ich weder beweisen oder widerlegen könnte (jedenfalls nicht auf die Schnelle), der aber herausfordert: Was folgt, wenn ich radikal auf alles verzichte, was außerhalb von Sprache und Diskurs liegt? Was folgt etwa, wenn ich darauf verzichte, mit einem “wahren” oder “ursprünglichen” Selbst zu argumentieren, das unabhängig vom Diskurs existiert und diesem vorausgeht?

    Kommentar:

    Nun, man kann natürlich argumentieren, dass der Mensch Bedürfnisse hat und diese Bedürfnisse sind nun einfach auch physiologisch, quasi anthropologisch universal. Hunger, Krankheit etc. sind ja auch ohne Diskursives vorhanden und von daher erübrigt sich m.E. diese Unterscheidung zwischen Diskursivem und Nichtdiskursivem.

    Du schreibst:

    Es bedeutet vor allem die Aufforderung zu Misstrauen gegenüber allen, die behaupten, sie wüssten, was das Vorher oder Außen oder Innen sei, insbesondere, was das wahre, ursprüngliche Selbst ist, das innerhalb der Körper und innerhalb der Masken und Rollen lokalisiert wird.

    Kommentar:

    Nun eine kritische Haltung ist immer gut! 🙂

    Du schreibst:

    (Für mich selbst, mit meiner Überdosis an Selbsterfahrungsseminaren, die ich zu einem bestimmten Zeitpunkt meines Lebens mitgemacht habe, folgt vor allem, dass kein ursprüngliches Wesen in mir gibt, was sich irgendwie entfalten möchte, sondern dass ich das Produkt der Einflüsse um mich herum bin.)

    Kommentar:

    Nun: Ich würde sagen: Es gibt endogene, wie exogene Einflüsse und wenn wir nicht davon ausgehen, dass alles determiniert ist, sei es endogen oder exogen, es also noch einen freien Willen gibt, dann müssen wir auch so etwas wie ein Subjekt annehmen.

    Du schreibst:

    Andererseits stellt sich die Frage, woher Veränderungen kommen (die ja objektiv stattgefunden haben.) Wenn es nur den Diskurs und das Gesetz gibt, woher kommt es dann, dass nicht immer alles beim gleichen bleibt, sondern dass Menschen, die doch durch den Diskurs bestimmt sind, hin und wieder dagegen aufbegehren und Veränderungen wünschen?

    Von wo aus kann den Diskurs kritisieren, wenn nicht von außen, oder von innen der eigenen Gefühle aus?

    Als Erklärung für Veränderungen und mögliche Kritik am Diskurs bleibt noch, dass es innerhalb des Diskurses Widersprüche gibt.

    Kommentar:

    Ja, das ist dann wirklich die Frage, woher der Diskurs, der ja eine reine Struktur sein soll, sich verändert. Entweder eben doch ein freier Wille des Subjekts (es ist also nicht alles determiniert) oder dann muss man quasi auf die Chaosforschung zurückgreifen, um überhaupt Veränderungen einigermassen plausibel erklären zu können.

    Aber um es kurz zu machen: Bei Butler fehlt die Dialektik von Handlung und Struktur. Wenn Butler nicht gerade auf so etwas wie die Chaosforschung zurückgreifen will (und diese ist nur für physikalische, chemische und biologische Prozesse entwickelt worden, aber nicht für so etwas wie psychologische und soziologische Prozesse), dann kann sie schlichtwegs nicht erklären, wie sich eine rein diskursive Struktur verändern kann, ohne auf so etwas wie ein Subjekt zurückzugreifen. Weil phylogenetische und onogenetische Prozesse wird sie ja sowieso für kurz- oder langfristige Veränderungen als Ursache ablehnen, dann bleibt einfach nicht mehr viel übrig: Dann bleiben nur noch so etwas, was eben nicht-diskursiv ist (ökonomische und soziologische makrostrukturelle Prozesse) oder eben so etwas, was als Subjekt definiert wird, das einen freien Willen hat. Aber ich wüsste nicht, wie sich eine diskursive Struktur quasi autopoietisch und selbstreferenziell verändern könnte.

    PS: Zum Text von Jungle World: Ich könnte mir vorstellen, dass die Queer-Theorie um Einiges differenzierter beim Palästina-Israel-Konflikt denkt als „Jungel World“ selbst. 🙂 Der Vorspann oder die headline im Artikel ist m.E. wieder mal tendenziös. Der Text behandelt nicht das Thema Butler und der Palästina-Israel-Konflikt, sondern mehrheitlich eine andere Thematik und trotzdem wird dann eben im headline eine Aussage über Queer-Theorie und diesen Konflikt abgeleitet, obwohl der Gesamtinhalt des Textes diese Aussage im headline nicht hergibt.

    • susanna14 schreibt:

      Ich finde es schwierig, dir zu antworten, weil ich mir nicht immer sicher bin, ob du deine eigene Position oder die von Judith Butler wiedergibst.

      Butler würde selbstverständlich auch sagen, dass ausserhalb der Sprache etwas existiert. Materialisierung mittels Sprache heisst bei ihr ja nicht, dass es nix ausserhalb der Sprache geben würde, mit Materialisierung meint sie ja nur, dass es quasi eine Bedeutung für den Menschen erhält und somit eben existent für das Bewusstsein wird.

      Ich müsste das Buch noch einmal lesen, um zu sehen, wie sie das Wort „Materialisierung“ verwendet. Kannst du mir einen Tipp geben, in welchem Kapitel ich nachlesen soll?

      Nur wäre ja dann die Frage, was genau unter Subjekt verstanden wird. Angst, Wut, Scham, Trauer, Hunger, Durst, Sexualität etc. haben offenbar eine biologische Basis und die ist universal: somit auch eine Ontogenese und Phylogenese und somit etwas, das eben nicht sprachlich konstituiert wurde.

      Hier habe ich jetzt den Eindruck, dass du deine eigene Position darstellst, nicht die von Butler.

      Nun, man kann natürlich argumentieren, dass der Mensch Bedürfnisse hat und diese Bedürfnisse sind nun einfach auch physiologisch, quasi anthropologisch universal. Hunger, Krankheit etc. sind ja auch ohne Diskursives vorhanden und von daher erübrigt sich m.E. diese Unterscheidung zwischen Diskursivem und Nichtdiskursivem.

      Hier vermute ich auch, dass du deine eigene Position, nicht die von Butler darstellst. Allerdings verstehe ich sie nicht ganz. Wenn du schreibst, dass Hunger und Krankheit auch ohne Diskursives vorhanden sind, unterscheidest du doch zwischen Diskursivem und nicht Diskursivem.

      Ja, das ist dann wirklich die Frage, woher der Diskurs, der ja eine reine Struktur sein soll, sich verändert. … Aber ich wüsste nicht, wie sich eine diskursive Struktur quasi autopoietisch und selbstreferenziell verändern könnte.

      An makroökonomische Prozesse habe ich jetzt nicht gedacht, und ich habe Zweifel, ob Judith Butler daran gedacht hat, jedenfalls kommen sie in ihrem Text nicht vor.

      Bevor ich zum Jungle-World-Artikel übergehe hier noch ein weiterer Satz, den ich gefunden habe:

      Folglich sind die Anlagen [=Dispositionen des sexuellen Begehrens] keine pirmären sexuellen Gegebenheiten der Psyche, sondern produzierte Effekte des Gesetzes, das von der Kultur und den komplizenhaften, umwertenden Akten des Ich-Ideals auferlegt wird. (S. 102)

      Jetzt zum Jungleworld-Text. Wie gesagt, den ersten Abschnitt möchte ich gerne weglassen, der ist unterhabl jeder Diskussion. WIr können über das Diskutieren, was sich unterhalb des Bilds befindet.

      Bemerkenswert fand ich besonders die Kritik an der Immanenz, die Butler befürwortet (während Adorno Immanenz ablehnt.) So wie ich den Text verstanden habe, meinen die Autoren die Immanenz des Diskurses, jenseits dessen es nichts gibt. Das andere, was ich spannend fand, waren die Abschnitte über AIDS. Solch eine Krankheit ist tatsächlich eine erhebliche „Störquelle“ von außerhalb des Diskurses, und die heftigste Störquelle ist immer der Tod. Die Kritik an Butler ist dann die, dass sie sich nur gegen den Diskurs wendet (Krankheit wird nicht betrauert) und nicht gegen die Krankheit selbst. Als ich die entsprechenden Stellen in „Unbehagen der Geschlechter“ las, sind sie mir nicht aufgefallen, aber als ich den Jungle-World-Artikel liest, dachte ich, klar: wer an einer tödlichen Krankheit leidet, leidet möglicherweise darunter, dass er nicht betrauert werden wird (auch wenn Freunde und Familie wahrscheinlich wichtiger sind als „die Gesellschaft“), aber noch mehr leidet er an der Krankheit selbst und daran, dass er bald sterben wird.

      Natürlich ist es so, dass Mittel für Forschung an der Krankheit erst ausgegeben werden, wenn klar ist, dass die Toten einen Verlust darstellen und sie nicht „gerechterweise“ (Strafe Gottes) gestorben sind, insofern schien es mir Sinn zu ergeben, dass Butler über die fehlende Trauer schreibt. Aber die Hauptsache ist doch etwas anderes, nämlich die Krankheit selbst.

  4. Chomsky schreibt:

    @Susanne14

    Du schreibst:

    es gab keine “ethnischen Säuberungen”.

    Kommentar:

    Ja, weshalb weisst Du das, dass es keine ethnischen Säuberungen gab??

    Ilan Pappe geht davon aus, dass es diese gab:

    Nun, stellt sich wieder die Frage, was genau unter „ethnischer Säuberung“ verstanden wird.
    Zudem würde sich dann die Frage stellen, ob Ilan Pappe mit seinem Buch in etwa das widergibt, was tatsächlich passiert ist.

    Und Eines muss ja klar sein: Dass das „offizielle Israel“ keine Freude an einer solchen ‚Wahrheit“ hätte, dürfte ja wohl auch klar sein und selbstverständlich ist auch in Rechnung zu stellen, dass die Wahrheit ein umkämpftes Objekt ist. Die Palästinenser haben sicherlich, neben der Wahrheit, auch ein Interesse daran, dass sie als Opfer gesehen werden und das Gleiche gilt wohl auch für Israel.
    Aber einfach zu sagen, es gab keine „ethnischen Säuberungen“, finde ich nun wiederum von Dir tendenziös! 🙂

    • susanna14 schreibt:

      In der Tat ist zu fragen, was unter „ethnischen Säuberungen“ zu verstehen ist. So viel ich weiß, kam das Wort während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien auf, und zwar als Euphemismus, der von der serbischen Seite verwendet wurde. Schon von daher wäre ich vorsichtig das Wort für eine Zeit zu verwenden, in der es das Wort noch gar nicht gab. Andererseits kann es natürlich durchaus sein, dass es das, was heute als „ethnische Säuberung“ bezeichnet wird, damals schon gab. Allerdings gab es auch damals schon Worte dafür, die genauer als dieses Wort sind, und außerdem keine Euphemismen: Vertreibungen und Massaker. Das Wort „ethnische Säuberung“ hat nämlich auch das Problem, dass es beides zusammenfasst.

      Ich habe gerade bei Wikipedia nachgesehen. Das Wort hat es sogar schon zum Unwort des Jahres gebracht. Nachdem ich mir das Interview mit Ilan Pappe angesehen habe, dachte ich, dass ich mich vielleicht täusche und der Begriff im englischen Sprachraum schon viel länger existiert, aber auch auf der englischen Seite heißt es, dass der Begriff aus dem Serbokroatischen kommt.

      Über Ilan Pappe habe ich mich auch informiert. Anscheinend gehört er zu einer Gruppe, die als neue israelische Historiker bezeichnet wird, aber von anderen Mitgliedern dieser Gruppe, etwa Benny Morris, wird er als zu radikal bezeichnet. Ich selbst würde an dem, was er im Interview sagt, kritisieren, dass er mit keinem Wort erwähnt, dass damals Krieg war. Viele Menschen flohen wegen des Krieges.

      Es gab aber eben auch viele Menschen, die nicht flohen und deren Nachkommen jetzt arabische Israelis sind. Wie ist es denen gegangen? Wie wären die, die geflohen sind, behandelt worden, wenn sie geblieben wären? (In der Tat sind die Araber, die geblieben sind, mein Hauptgrund für die Annahme, dass es keine ethischen Säuberungen gab.)

      Meine Hauptkritik an dem Text von BDS ist jedoch, dass er nicht klarmacht, wie er sich ein friedliches Zusammenleben vorstellt, und ob er sich überhaupt ein friedliches Zusammenleben vorstellt. Jemand, der Frieden wünscht, muss akzeptieren, dass nun jüdische Menschen auf „arabischem Land“ leben (ich meine Israel in den Grenzen von 1948, nicht das Westjordanland) und dass sie dort bleiben werden.

      Ach ja, ich habe auch einen Text gefunden: Ethnische Säuberung in Israel?

      • Chomsky schreibt:

        @Susanna14

        Nun: Ob jemand als radikal eingestuft wird oder nicht, sagt nun mal schon nix darüber, ob seine wissenschaftliche Arbeit den Tatsachen entspricht oder nicht! Die Ansichten von Galileo Galilei waren damals sicherlich auch radikal, aber offenbar beinhalteten sie einen Kern der Wahrheit. 🙂

        Nach Pappe haben eben die systematischen Vertreibungen bereits vor Kriegsausbruch begonnen. Und vor allem: Es macht einen Unterschied, ob wir Befehle haben, die Bevölkerung systematisch zu vertreiben und ihre Lebensgrundlage zu zerstören (Häuser und gesamte Dörfer platt zu machen), damit einen Rückkehr quasi ausgeschlossen ist oder ob sie infolge von Kriegshandlungen geflohen sind. Ich denke, Pappe kann hier schon noch unterscheiden.

        Aber im Prinzip ist doch Pappes Buch nur eine Fortsetzung des Buches von

        Simha Flapan: Die Geburt Israels : Mythos und Wirklichkeit.
        http://de.wikipedia.org/wiki/Simha_Flapan
        Simha Flapan war übigens jahrzehntelang der nationale Sekretär der Mapai, also der Partei, die von David Ben Gurion gerüdet wurde. 🙂 Er hatte also ziemlich guten Einblick in das Geschehen um die Jahre 1947/1948. Und nun kann man sich fragen: Was für ein Interesse sollte Simha Flapan haben, ein völlig verklärtes Geschichtsbild über Israel zu liefern? Er war nationaler Sekretär einer zionistischen Partei und der Gründer dieser Partei war (David Ben Gurion) der erste Permierminister Israels.

        Aber wir können hier die Frage nicht klären: Dazu müssten wir die Quellen sichten und das würde heissen, wir müssten u.a. in das israelisch Militärarchiv gehen.

        Viel spannender fände ich somit die Diskussion des Jungle World Textes, weil er doch Einblick in das Denken von Butler gibt und man auch diskutieren könnte, ob das Denken richtig nachgezeichnet wurde und wo die Problematik liegt oder auch die Stärken.

  5. susanna14 schreibt:

    Ich habe noch einmal nachgesehen, das Wort ist „einseitig“ und nicht radikal (mein Fehler). Benny Morris kritisiert auch die Art, wie Ilan Pappé mit den Quellen umgeht. Ich kenne mich aber nicht genügend aus, um wirklich beurteilen zu können, wer recht hat. Dennoch scheint mir, als ob es der Campagne BDS nicht wirklich um ein friedliches Zusammenleben geht, denn dazu müssten auch die Ängste der Palästineser

    Ich finde es auch interessanter, den Jungle-World-Artikel zu diskutieren. Wir können uns ja mal einigen, dass wir den ersten Absatz (den oberhalb des Bildes) für polemisch und indiskutabel halten und uns auf den Rest des Artikels beschränken.

  6. Chomsky schreibt:

    @Susanna14

    Also, ich habe mich ein bisschen am Text von Jungle World abgearbeitet; bin noch nicht fertig, bei Lust und Laune kommt dann ev. noch der Rest. Ich halte ihn für nicht sehr überzeugend, obwohl es natürlich zwischen Adorno/Kritischer Theorie und Butler Divergenzen gibt, aber sicherlich auch viele Konvergenzen.

    Im Text heisst es:

    Darin überrascht Butler mit der Erkenntnis, es sei Adorno gar nicht um eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegangen, da dies einen Maßstab von wahr und falsch impliziere, der notwendig Züge des Totalitären trage. Vielmehr habe er eine »Ethik der Anerkennung« formuliert, die die Achtung aller im Bestehenden sich äußernden Differenzen fordere und so Herrschaft und Diskriminierung verhindere. Letztlich sei es Adorno um die »Dekonstruktion des Menschlichen« gegangen, indem er versucht habe, das »Subjekt als Grundlage der Ethik zu entfernen«. So versucht Butler, die sich in ihren Vorlesungen kaum zufällig häufiger als auf Adorno auf Michel Foucault bezieht, jenen zum Kronzeugen eines Projekts zu machen, das das Inhumane nicht als Gegensatz zum Humanen, sondern als dessen notwendige Grundlage ansieht, und plädiert für eine Philosophie der absoluten Immanenz, da man andernfalls gar nicht anders könne, als in »moralischen Narzissmus« zu verfallen.

    Kommentar:

    Warum nun die Unterscheidung von „wahr und falsch“ notwendige Züge des Totalitären in sich tragen soll, ist mir eigentlich noch nicht so richtig klar. M.E. kann man hier ja gut das Falsifikationsprinzip von Popper nehmen: Wahrheit ist quasi ein Regulativ, dem man sich annäheren kann, aber auch Rechnung trägt, dass man sich eben irren oder täuschen kann. Aber hier dann gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten, halte ich wiederum für falsch. Natürlich kann man quasi axiomatisch einen Perspektivismus einführen, aber für eine wissenschaftliche Praxis wäre diese Perspektive m.E. ein Witz. Wenn es in der Wissenschaft nicht mehr darum gehen sollte, wahre Aussagen zu produzieren. Ein extremes Beispiel wären historische Greueltaten: Hat es über 6 Mio ermordete Juden gegeben – ja oder nein? Oder ist das einfach eine Frage der Perspektive? Und m.E. schliesst eine Anerkennung der Differenz (wobei mann dann noch genau schauen müsste, was genau damit gemeint ist) Wahrheit als Regulativ nicht aus. Und was das genau heissen sollte, das Inhumane sei notwendige Grundlage des Humanen (oder umgekehrt: Humane als notwendige Grundlage des Inhumanen) müsste ja dann jeweils konkret an einem Beispiel exemplifiziert werden. Auch dass quasi eine Philosophie der Transzendenz notwendigerweise in einen moralischen Narzissmus führen würde, scheint mir einfach eine zu pauschale Aussage zu sein.

    Im Text heisst es:

    Heute scheint es selbstverständlich, dass queer irgendwie alles ist, was sich selbst eine Abweichung von der Norm zuschreibt. Niemand will heute mehr normal sein, also sind alle queer, denn jede sexuelle Differenz, jeder Fetisch wird zum Bestandteil einer Identität. Was im Interesse der Entpathologisierung der verschiedenen Formen sexuellen Begehrens legitim ist, wird in einem ganz anderen Zusammenhang zum Problem: dort, wo es zur repressiven Vergleichung des Unvergleichlichen unter dem Primat »queer« kommt. Trennungen und die mit ihnen geschaffenen Begriffe verschwimmen, wenn etwa sadomasochistisches und homosexuelles Begehren behandelt werden, als wären sie einfach nur gleichermaßen sexuelle Identitäten. Es dürfte sich aber herumgesprochen haben, dass es das sadomasochistische Begehren sowohl homo- wie heterosexuell gibt und dass ein Mann, der gern Frauenkleider trägt, weder trans- noch homosexuell sein muss. Historisch gibt es eine Verwandtschaft der Subkulturen, die aber mehr mit der gesellschaftlichen Unterdrückung als mit wirklichen Gemeinsamkeiten zu tun hat.

    Kommentar:

    Nun, da scheint mir die Repression („die repressive Vergleichung des Unvergleichlichen“) ein bisschen gesucht zu sein und leider sehe ich den Widerspruch nicht, der hier der Queertheorie vorgeworfen wird. Wenn die „Unterdrückungserfahrung“ identitätsstiftend ist, dann gibt es eben einen gewissen Nenner und ev. gibt es aber dann eben noch andere Identitätssegmente, wo man sich wieder unterscheidet.

    Im Text heisst es:

    Die Toleranz gegenüber der Homosexualität und den Homosexuellen ist also nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass heute alle queer sind. Die Betonung einer gewissen Anormalität schlägt jedoch um in Ignoranz gegenüber der Homophobie, die eben nicht in dem Maße verschwindet, wie sexuelle Differenzen scheinbar anerkannt werden. Vielmehr ist es so, dass der Hass auf Schwule keineswegs nachlässt, eben weil die Differenz des gleichgeschlechtlichen Begehrens nicht ohne weiteres überschritten oder integriert werden kann, im Gegensatz zu anderen Formen des Begehrens. Butler hat mit ihrer Weiterentwicklung der Trennung von Gender und Sex durchaus dazu beigetragen, bestimmte Verallgemeinerungen in Frage zu stellen – vor allem jene Kategorien, die mit Begriffen wie Frau, Lesbe, Schwuler verbunden sind. Ihr gelten diese Kategorien jedoch als Sprechakte und Performanzen jenseits des Begehrens, und Begehren heißt nach Freud: nicht anders und nicht ohne dieses eine Objekt zu können. Ein solch unausweichliches Begehren aber gibt es bei Butler nicht, es erscheint bei ihr stattdessen, als wäre eine Entscheidung darüber möglich, wie sich jemand zu seinem Begehren stellt. Dass es im Begehren eine Kompromissbildung gibt, die zwischen dem phantasierten und dem realen Objekt, zwischen dem Wunsch und der Wirklichkeit vermittelt, wird ignoriert – es gibt bei Butler keinen anderen Wunsch als die Wirklichkeit und die Wirklichkeit ist nichts anderes als der Wunsch, weil das Begehren nicht dem Trieb entspringt, sondern nur sprachlich, also sozial vermittelt, überhaupt existiert.

    Kommentar:

    Ob die Homophobie nun mit dem Begehren zu tun hat, wäre dann eine andere Frage und das muss selbstverständlich nicht heissen, dass die Queertheorie Homophobie ignoriert, nur weil man nicht von einem freudschen Konzept des Begeherens ausgeht. Ja, ich würde wirklich sagen, dass es Menschen gibt, die sich eher für dieses oder jenes Begehren entscheiden können, aber sicherlich nicht alle; aber dort, wo ein multiples Begehren vorhanden ist, dort können sich m.E. gewisse Menschen eher für dieses oder jenes entscheiden. Und ob das Begehren nicht auch sozial vermittelt ist – wer weiss das genau?

    Im Text heisst es:

    Das wird dort evident, wo Butler den Ausgangspunkt ihres philosophischen Projekts benennt: »Während der Aids-Krise (die übrigens andauert, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent) habe ich über den Skandal geschrieben, dass Homosexuelle ums Leben kommen, ohne dass explizit und öffentlich um sie getrauert wird. Es war, als hätte es ihr Leben nie gegeben und als wäre es kein wirklicher Verlust. Diese Situation hat sich geändert, doch am Anfang gab es sehr wenig öffentliche Beachtung für diesen Verlust und ich war der Meinung, dass sich Homophobie darin ausdrückt, dass man Schwule und Lesben als ›unbetrauerbares Leben‹ ansieht«, sagte sie vor zwei Jahren in einem Interview mit der Jungle World, nachdem sie den Zivilcourage-Preis des Berliner CSD abgelehnt hatte. Der Skandal liegt demnach gar nicht so sehr im Tod der Schwulen selbst, sondern darin, dass nicht öffentlich um sie getrauert wurde. In Butlers Rückschau auf die Aids-Krise geht es in der Hauptsache auch nicht darum, was real geschehen ist – die explizite Todesdrohung, die in jenen Jahren für Homosexuelle bestand, wird geradezu geleugnet, wie sie heute die Vernichtungsdrohung gegen die Juden in ihrem Engagement gegen Israel leugnet. Tod und Vernichtungswunsch als solche scheinen für Butler kein Problem zu sein, weil menschlichem Sein oder Nichtsein von ihr nur noch in der Sprache Realität zugesprochen wird. Butler findet sich mit dem Tod im Vorhinein ab und will nur noch darüber reden, wie über den Tod geredet wird.

    Kommentar:

    Auch hier wird m.E. wieder ein bisschen das Haar in der Suppe gesucht, um Butler ans Bein zu pinkeln. Wenn um die Toten nicht getrauert wird, kann dies effektiv ein Zeichen sein, dass homosexuellen Menschen weniger Wert beigemessen wird; aber das muss noch lange nicht heissen, dass es einen unberührt lässt oder es kein unhaltbarer Zustand ist, wenn die Leute an Aids sterben. Und ob für Butler nun die Todesdrohung relevant war oder nicht, kann sicherlich nicht einfach so aus der Ferne beurteilt werden und dann die „angedichtete“ nicht wahrgenommene Todesdrohung gleich mit der von Butler offenbar nicht artikulierten Vernichtungsdrohung der Juden gleichzusetzen und zu beklagen, halte ich nun auch für eher tedenziös.

    PS: Ich halte übrigens nicht sooo viel von der Psychoanalyse. Lothar Böhnisch würde ich ja auch der Kritischen Theorie zuordnen (also Freudo-Marxismus), aber er braucht die Psychoanalyse meist sehr, sehr sparsam, sodass ich sogar dies noch gutheissen kann

    • susanna14 schreibt:

      Warum nun die Unterscheidung von „wahr und falsch“ notwendige Züge des Totalitären in sich tragen soll, ist mir eigentlich noch nicht so richtig klar.

      Das ist auch den Autorinnen des Texts nicht klar. Sie stellen damit Butlers Position dar, welcher sie widersprechen beziehungsweise welche sie für eine Fehlinterpretation Butlers von Adorno halten. Sie würden dir wahrscheinlich zustimmen: Wenn man es als falsch bezeichnet, wenn jemand den Holocaust leugnet, dann hat das nichts Totalitäres an sich.

      (Ich habe das übrigens mal erlebt. In einer Gruppe für kreatives Schreiben stieß ich auf eine Frau, die meinte, Deutschland sei nicht für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich, und außerdem müsse sie doch wohl ihre Meinung sagen müssen. Als ich meinen Schock zum Ausdruck brachte, wurde mir von den anderen Mitgliedern der Gruppe erklärt, ich solle Verstaännis haben und Rücksicht nehmen und nicht ausflippen.)

      Auch für den Abschnitt mit dem Inhumanen, das die Grundlage des Humanen darstellen solle (so weit ich es verstanden habe, halten die Autoren die Leugnung des Subjekts für das Inhumane) gilt, dass hier die Autoren die Position Butlers darstellen, welche sie kritisieren. Es ist nicht die Position der Autoren. Dasselbe gilt für den Satz mit der Transzendenz.

      Die Toleranz gegenüber der Homosexualität und den Homosexuellen ist also nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass heute alle queer sind. Die Betonung einer gewissen Anormalität schlägt jedoch um in Ignoranz gegenüber der Homophobie, die eben nicht in dem Maße verschwindet, wie sexuelle Differenzen scheinbar anerkannt werden.

      Ich habe das so verstanden, dass queer sein heutzutage „in“ ist, dass das aber nichts mit realer Achtung vor realen Homosexuellen zu tun hat, jedenfalls nicht notwendigerweise. Ich selbst bin da nicht ganz so skeptisch wie die Autoren . ich denke, dass Menschen dadurch schon mal ins Nachdenken kommen – aber ich glaube auch, dass kein Automatismus zwischen „cooler“ Queerness und Akzeptanz von Homoseexualität besteht.

      Die Abschnitte mit dem Begehren sind m.E. tatsächlich das, was die Autoren von Butler unterscheidet: sie gehen davon aus, dass es ein Begehren gibt, das aus der Tiefe des Subjekts kommt. Dies macht dann Kompromisse nötig zwischen dem, wonach man sich sehnt, und dem, was man erreichen kann. Nach Butler ist alles Begehren durch den Diskurs vermittelt – dies würde aber bedeuten, dass nichts jenseits von dem, was es bereits gibt, begehrt werden kann.

      Wenn um die Toten nicht getrauert wird, kann dies effektiv ein Zeichen sein, dass homosexuellen Menschen weniger Wert beigemessen wird;

      Über den Vergleich mit dem Antisemitismus, wo Butler angeblich auch die Todesdrohung ignoriert, möchte ich gerade nicht diskutieren. Möglicherweise mussten die Autoren ein paar solche Sätze in ihren ursprünglichen Text einbauen, damit er von der Jungle World gedruckt wird. 😉

      Wie gesagt, das mit der fehlenden Trauer, die von Butler als das Hauptproblem angesehen wird, habe ich auch nicht sofort gemerkt, aber als ich es gelesen habe, wurde es mir klar. Ich habe mir überlegt: Wie wirkt es auf den, der weiß, dass er sterben muss, wenn das Gegenüber vor allem über die fehlende Trauer spricht? Dass die fehlende Trauer ein Problem ist, stimmt, aber bevor man über die fehlende Trauer redet, sollte man über das reale Problem sprechen, nämlich darüber, dass die Menschen sterben.

      Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Dadurch, dass sie sich über die fehlende Trauer beklagt, vermeidet sie es, den Tod dieser Menschen zu betrauern.

      Der entscheidende Satz scheint mir der folgende zu sein:

      Tod und Vernichtungswunsch als solche scheinen für Butler kein Problem zu sein, weil menschlichem Sein oder Nichtsein von ihr nur noch in der Sprache Realität zugesprochen wird. Butler findet sich mit dem Tod im Vorhinein ab und will nur noch darüber reden, wie über den Tod geredet wird.

      Hier wird Butlers Konzentration auf den Diskurs (oder das Gerede) und ihrer Verleugnung (oder Geringschätzung) der materiellen Welt kritisiert.

      • Chomsky schreibt:

        @Susanna14

        Vielleicht noch kurz zum Begehren: Eigentlich gibt es ja drei möglich Kausalitäten, natürlich noch mit seinen Wechselwirkungen und Reziprozitäten und Interaktionen etc.

        – endogene Faktoren (Biologie, Hormone, Genetik)
        – exogene Faktoren (Psychologie, Politik, Soziologie, Ethnologie, Historie etc.)
        – die freie subjektive Entscheidung, mit der Annahme, das Subjekt ist nicht vollständig durch endogene und exogene Faktoren determiniert.

        Hier können ja ein bisschen die Zwillingsstudien weiterhelfen, insbesondere bei eineiigen Zwillingen.

        Bei der Homosexualität sieht es offenbar wie folgt aus:

        Oerter/Montada (Entwicklungspsychologie) schreibt diesbezüglich:

        „Homosexualität ist bei Männern und Frauen genetisch mitbedingt, keineswegs aber rein genetisch erklärbar.“

        „Zwillingsstudien sprechen füpr einen substantiellen genetischen Einfluss auf Homosexualität (…). So waren bei 115 männlichen Homosexuellen 52 Prozent der eineiigen, aber nur 22 Prozent der zweieiigen Zwillingsbrüder ebenfalls schwul.“ (S. 54)

        Es sieht ganz danach aus, dass die Genetik in etwa 50% das Begehren bei schwulen Männern erklären würde. Wie die restlichen 50% zu erklären sind?? Ev. durch weitere biologische Faktoren, ev. durch soziale Faktoren und ev. durch den freien Willen. 🙂

        Oder man könnte auf jeden Fall sagen: Je ähnlicher die Genetik zwischen Personen, desto ähnlicher ist das Begehren.

        Nun ist klar: Die Umwelteinflüsse können auch bei eineiigen Zwillingen verschieden sein, obwohl sie in der selben Familie etc. aufwachsen. Aber: Das Gleiche gilt für die zweieiigen Zwillingen und wenn die Populationen genug gross sind, dann kann dieser Bias oder diese Verzerrung, wenn Populationen untersucht werden, ausgemerzt werden. Und somit würde ich doch behaupten, dass die Genetik bei schwulen Männern doch in etwa 50% das Begehren determiniert. M.E. wäre somit die These von Butler widerlegt, dass das Begehren rein diskursiv erzeugt würde.
        Die Frage stellt sich also nur noch, welche anderen Faktoren, ausser der Genetik, sind für das Begehren sonst noch verantwortlich. Das können z.B. weitere biologische/endogene Faktoren sein: diskutiert wird vor allem das pränatale Testosteron. Ev. sind soziale Faktoeren verantwortlich und ev. eben auch der freie Wille des Subjekts.

        Aber: wichtig scheint mir zu sein, sollten Subjekt und exogene Faktoren auch eine Rolle spielen, dass immer auch daran gedacht werden muss, dass endogene und exogene Faktoren sowie Subjektives interagieren können und das Eine das Andere beeinflusst.

        Aber die These von Butler lässt sich m.E. absolut nicht aufrechterhalten, zumindest wenn es um die Homosexualität geht. Aber die Zwillingsstudien bezüglich der Homosexualität geben ja indirekt auch schon über andere Begehren Aufschluss.

        Also: Frau Butler würde doch lieber ab und an entwicklungspsychologische Forschungen zur Kenntnis nehmen. 🙂

  7. susanna14 schreibt:

    Ich glaube nicht, dass Frau Butler deinem Aufruf folgen würden. 😀 Ich stehe solchen Studien auch skeptisch gegenüber und denke, man muss da sehr genau hinsehen. Oft gibt es widersprüchliche Studien.

    Ich glaube aber, es ist Zeit, die Diskussion jetzt zu beenden. Vielleicht kannst du ja bei Antje Schrupp vorbeischauen: Betrauerbare und Unbetrauerbare – Judith Butlers Rede zum Adornopreis… Ich überlege schon, was ich mir als nächstes vornehme. In zwei Wochen werde ich mir einen Vortrag von Tove Soiland anhören (freue mich schon), vielleicht kann ich bis dahin ein paar ihrer Texte lesen und etwas darüber schreiben.

    • Chomsky schreibt:

      Tztztztz! Jetzt wo es empirisch wird, willst Du gerade wieder aus der Diskussion aussteigen – unfassbar! 🙂
      Nein, schon klar, dass Frau Butler tendenziell keine Empirie zur Kenntnis nimmt, das ist m.E. auch die grösste Schwäche ihrer Sozialphilosophie und deshalb bekommt sie m.E. zu Recht den Adorno-Preis, weil die gesamte Kritische Theorie quasi empiriefreie Sozialphilosophie betrieben hat und das ist m.E. auch die grösste Schwäche einer Sozialphilosopie: Bourdieu schreibt diesbezüglich:

      „Was zählt, ist tatsächlich weniger meine persönliche Stellung zur Philosophie als die objektive Stellung der Soziologie ihr gegenüber. Zumindest seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts definiert sich die europäische Philosophie in Absetzung von den Sozialwissenschaften, der Psychologie und besonders der Soziologie und über dies gegen jede Art von Denken, das sich direkt und ausdrücklich durch das Interesse für angeblich inferiore Dnige oder durch den Rückgriff auf „unreine“ Methoden, die die Philosophen seit jeher als „reduktionistisch“ und „positivistisch“ gebrandmarkt haben, seien es statistische Erhebungen oder schlichte historiographische Analysen von Dokumenten, erniedrigen wollen – diese ablehende Haltung wird noch verstärkt durch die Weigerung, sich auf die flüchtige Kontingenz des Historischen einzulassen. Und sie lässt die um ihre Statuswürde besorgten Philosophen immer wieder – und nicht selten auf ganz unerwartete Wegen: Beispiel Jrügen Habermas – auf das „universale“, „ewige“ Denken zurückkommen.“ (Bourdieu 1993, S. 87 f.)

      Zu Tove Soland: Ja, beschäftigt sich auch mit Care-Ökonomie, wie z.B. Mascha Madörin und verfolgt wohl so etwas wie eine Synthese von dekonstruktiver und einer an der Kritischen Theorie orientierten Geschlechterforschung. Ähmmm, mutmasslich! 🙂

      • susanna14 schreibt:

        Auf empirische Studien lasse ich mich nur ein, wenn ich die Original-Studie kenne. Ich habe zur Zeit auch noch nicht das Handwerkszeug, um eine empirische Studie fachgerecht zu beurteilen. Und: ich habe nichts per se gegen empirische Studien, zum Beispiel verfolge ich, was ich in Spektrum der Wissenschaft zum Thema Intelligenzforschung finde. Und vor ca. zwei oder drei Jahren habe ich zwei extrem spannende Bücher zum Thema Psychopharmaka gelesen, die diese nicht aufgrund irgendeiner Ideologie, sondern auf der Basis von empirischen Studien kritisierten.

        Nur was Homosexualität angeht, interessiere ich mich nicht wirklich dafür, wie sie entsteht. Ich wünsche mir, dass Homosexualität eines Tages so normal sein wird wie Linkshändigkeit, und die Frage, wie jemand homosexuell wird, genauso interessant wie die, warum jemand zum Linkshänder wird. (Wobei ich mir vorstellen kann, dass letzteres durchaus interessant ist. Ich stelle es mir als eine Art Symmetriebrechung vor: Anfangs sind beide Seiten gleichberechtigt, aber dann wird zufällig eine Seite mehr benutzt, und das verstärkt sich dann.)

        Interessant finde ich die Frage dagegen bei Themen wie Intelligenz.

        Ich persönlich bin der Meinung, dass die Fähigkeit, empirische Studien intelligent zu beurteilen (passt das Forschungsdesign zur Fragestellung? Ist die Fragestellung sinnvoll? Ist die Interpretation der Ergebnisse nachvollziehbar?) mindestens genauso wichtig wie das reine Philosophieren. Ich glaube, es handelt sich zumindest teilweise auch um das Problem, dass Menschen sich auf die Fähigkeiten zurückziehen, die sie gelernt haben, und das ist bei Philosophen eben nicht die Empirie. Allerdings finde ich sollten wir anderen die Fähigkeiten der Philosophen nutzen und auch von ihnen lernen.

        Irene hat unten auch dazu geschrieben, das ist vielleicht interessant für dich.

  8. Irene (@irene_muc) schreibt:

    Danke für den Jungle-World-Link, der erklärt mir gewissermaßen mein eigenes Unbehagen mit der Queer Theory.

    Weil er eben kein Äußeres sei, sondern bloße Immanenz, sei er kein Objekt, das erkannt werden könne. Es seien keine deskriptiven Aussagen über den Körper möglich, jede Aussage sei eine imperative: eine Aufforderung an den Körper, sich gemäß der Aussage zu verhalten und zur Materialisierung der Aussage zu werden.

    Das erinnert mich fast an die Esoteriker, die glauben, dass Realität durch die Kraft der Gedanken erschaffen wird. Ob das nur daran liegt, dass ich übermüdet bin, entscheide ich morgen 😉

    • Irene (@irene_muc) schreibt:

      Als scherzhafter Vergleich funktioniert das auch bei Tag. Mein Punkt ist aber ein anderer: Wenn alles nur aus Diskurs besteht, muss man von anderen Dingen nichts mehr verstehen. Dann wird die Biologie einfach als Biologismus weggebissen, sodass man keine naturwissenschaftliche Bildung mehr braucht – und das ist ohnehin die Schwachstelle vieler, die sozialwissenschaftlich und politisch interessiert sind. In Deutschland kann man Abi machen, ohne den Unterschied zwischen Atom und Molekül erklären zu können, und wenn man die Interessen geschickt wählt, fällt es nicht mal auf. Und in manchen Bundesländern gibt es so komische Abifach-Kombis wie Deutsch, Sport, Kunst und Sozialkunde. Warum ist Queer Theory in Berlin populärer als z.B. im Schwäbischen? Der Spruch „mir könnet alles außer Hochdeutsch“ muss dringend um „Queer Theory“ erweitert werden 😉

      • susanna14 schreibt:

        Naja, um zu wissen, dass es Männlein und Weiblein gibt und hin und wieder auch was dazwischen braucht man nicht im Leistungskurs Biologie gewesen zu sein. Ich bin aber auch gerade am Überlegen, ob die Leute unverständliche Texte produzieren, damit sie auch was schreiben, was Naturwissenschaftler nicht verstehen, so wie sie naturwissenschaftliche Texte nicht verstehen.

        (Ich bin ja selbst Naturwissenschaftlerin, und Relativismus und Postmoderne habe ich durch Paul Feyerabend („against method“, „anything goes“) gelernt, der verwendet viele naturwissenschaftliche Beispiele und verwendet Sätze, die zwar schwierig sind, die man aber mit ordentlichen Grammatikkenntnissen entschlüsseln kann und die auch logisch stichhaltig sind. Bei Judith Butler bin ich mir da nicht so sicher – im Augenblick beschäftige ich mich mit ihrer Position zu Hamas und Hisbolla und warum sie nicht verstehen kann, was genau ihre Kritiker an ihrer Position für kritikwürdig halten. (Kleiner Tipp: Es ist nicht die Gewaltbereitschaft dieser beiden Gruppen.)

        Ich hatte ja vor, den Text noch einmal ordentlich und langsam zu lesen, aber ich habe beschlossen, das jetzt aufzuschieben. Es gibt wichtigere Themen.

        Am Jungle-World-Artikel war für mich erst mal wichtig, dass ich merkte: Ich habe tatsächlich den Kernpunkt verstanden.

      • Irene (@irene_muc) schreibt:

        Zu den unverständlichen Texten fällt mir das Stichwort „Uni-Bluff“ ein und dass es sich vielleicht lohnen könnte, das Buch zu lesen.

        Naja, um zu wissen, dass es Männlein und Weiblein gibt und hin und wieder auch was dazwischen braucht man nicht im Leistungskurs Biologie gewesen zu sein.

        Für die Basics nicht, aber es gibt ja auch noch speziellere Themen, die politisiert werden, eben alles, was mit körperlichen Normen zu tun hat. Ein Beispiel:

        Rudolf Virchows Vortrag ist für diese Biologisierung von Geschlechterrrollen eine besonders schöne Quelle, weil er darin »Wissenschaft« und ein romantisch-konservatives Frauenbild verbindet: Er schreibt dort, dass alles, was die »wahre Frau« kennzeichne – also Tiefe des Gefühls, Sanftheit, Hingebung und Treue –, eine »Dependenz des Eierstocks« sei. Das ist Biologismus in Reinform, der bis heute nachwirkt. Wenn wir eine historische Quelle nehmen, dann müssen immer alle lachen, weil die Absurdität so offensichtlich ist. Wenn wir aber etwas Aktuelles nehmen, mit Hormonen und so, dann sagen die Leute schnell: »Das ist doch wissenschaftlich erwiesen.« Aber genau daher, aus dem 19. Jahrhundert, kommt diese Wissenschaft. Nur die Schlagworte ändern sich.

        „Hormone und so“, alles Quatsch in alle Ewigkeit? Wird das aktuelle Beispiel, das angeblich genauso absurd ist wie das verstaubte, nicht genannt, weil eh alles Quatsch ist, was irgendwie mit (Sexual-)Hormonen zu tun hat? Und was ist mit Schilddrüsenhormonen, sind die auch auf ewig patriarchal verseucht? (Mein Eindruck ist, dass deren Bedeutung von der Medizin tendenziell unterschätzt wird und den Betroffenen was anderes unterstellt wird, gern was Küchenpsychologisches.)

        Sollen Frauen etwa so tun, als ob Hormone keinen Einfluss auf sie hätten, nur weil es Deppen gibt, die das gegen uns verwenden möchten?

        • susanna14 schreibt:

          Ich habe das Buch mal gelesen, und vielleicht habe ich es auch noch – während eines Umzugs sind einmal diverse Bücher im Altpapier gelandet… Einen Bluff habe ich jetzt durchschauen können: viele Menschen, die sich auf Butler berufen, haben nur die Sekundärliteratur gelesen.

          Was die Biologie anbelangt, kümmere ich mich zur Zeit nicht besonders um Studien, die sagen, dass Männer besser dieses und Frauen besser jenes können. Mein eigenes „Problem“ ist ja, dass ich in dieser Hinsicht aus dem Rahmen falle. Biologistische Erklärungen von Unterschieden, sogar das nichtbiologistische Betonen der Unterschiede (Frauen sind so und so sozialisiert, deswegen brauchen sie dieses oder jenes, etwa nichtphysikalische Textaufgaben in Mathematik) schließen mich aus. Meinen Schülerinnen erkläre ich: „Das kann man üben!“ wenn sie befürchten, etwa wegen mangelndem räumlichen Vorstellungvermögen keine Pilotin oder Fluglotsin werden zu können. (Die betreffende Schülerin habe ich vor kurzen wiedergetroffen, sie macht jetzt erst einmal ein soziales Jahr in der Altenpflege.)

          Was ich am wichtigsten fände: dass Feministinnen die Fähigkeit erwerben, Studien zu Geschlechtsunterschieden zu verstehen und zu beurteilen, so dass sie diese nicht mit „das ist biologistisch/essentialistisch“ kategorisch ablehnen müssen, sondern dagegen argumentieren können – und gegebenfalls auch sagen: da könnte etwas dran sein. Besondere Vorsicht ist allerdings bei der Soziobiologie oder der Evolutionsbiologie geboten. Ich halte sie nicht für eine seriöse Wissenschaft, da sie alle erklärt und keine falsifizierbaren Aussagen macht.

          Eine zweite Frage ist die, wie man mit biologischen Unterschieden umgeht. Entlarvend sind hierbei die maskunlinistischen Pädagogen, deswegen finde ich sie so interessant. Die Frage ist ja: benutzt man biologische Unterschiede, um zum Beispiel Jobs unterschiedlich auf die Geschlechter zu verteilen (etwa Jungs in die Handwerksberufe und die gefährlichen Berufe, Mädchen in die Berufe, in denen in erster Linie mit dem Kopf gearbeitet wird), oder ruft man nach spezieller Förderung. Das ist, was die Maskulinisten tun, und dazu naturalisieren sie die Unterschiede. („Jungs müssen in ihrer natürlich Wildheit respektiert werden und dürfen nicht schlechtere Noten bekommen, weil sie seltener ihre Hausaufgaben machen und ihre Hefte unordentlicher und deswegen auch oft ihre schriftlichen Leistungen schlechter sind.“) Dort, wo die angeblich natürlichen Unterschiede den Mädchen/Frauen Nachteile bringen wenden sie sich gegen eine Förderung und dafür, dass die Mädchen Berufe ergreifen, die ihnen angemessen sind. (In den Hannoveraner Berufsschulen gibt es zwei für Menschen die nur Hauptschulabschluss oder nicht einmal den haben: eine hauswirtschaftliche für die Mädchen und eine handwerkliche für die Jungen. Natürlich führt die zweite zu viel lukrativeren Berufen.)

    • susanna14 schreibt:

      An die Esoteriker habe ich noch nicht gedacht. Ich habe jetzt aber darüber nachgedacht und glaube, dass ein wichtiger Unterschied besteht: Bei den Esoterikern ist es immer das Individuum, das mit der Kraft seiner Gedanken die WIrklichkeit verändert, hier ist es aber „der Diskurs“, also etwas, was von allen gemeinsam erzeugt wird – oder auch nicht, schließlich hat der Diskurs ja zunächst die Individuen erzeugt.

  9. Chomsky schreibt:

    Zum Sprachgebrauch von Butler et al. gibt es was Witziges von Noam Chomsky:

    „Bei Derrida oder Lacan oder Althusser verstehe ich kein Wort. Ich kann der Argumentation nicht folgen, weil ich überhaupt keine Argumente finde, und was nach Beschreibung von Tatsachen aussieht, scheint mir falsch zu sein. Vielleicht fehlen mir ein paar Gene. Aber ich glaube, ehrlich gesagt, eher, dass es Betrügerei ist.“ 🙂 (Chomsky, Noam 2004: Von Staaten und anderen Schurken. Aphorismen und Sarkasmen, S. 12)

    Aber: Bei diesen Autoren habe ich vorher immer ein paar Einführungen gelesen und dann versteht man die Primärliteratur doch ganz gut.
    Ausser bei Gilles Deleuze ist mir das nicht so richtig gelungen, den verstehe ich auch nach der Sekundärliteratur quasi überhaupt nicht. 🙂
    http://de.wikipedia.org/wiki/Gilles_Deleuze

    • susanna14 schreibt:

      Ich habe mal einen Vortrag von Luise Pusch erzählt, eine der wichtigsten Pre-Bulter-Feministinnen Deutschlands, von Haus aus Linguistin, genau wie Noam Chomsky, und sie hat bei Foucault und Derrida irgendwann auch aufgegeben. Ich finde es bezeichnend, wenn SprachwissenschaftlerInnen das tun, die doch auf das Entschlüsseln sprachlicher Texte spezialisiert sind.
      Mein Plan ist, nicht Sekundärliteratur zu lesen, sondern die Autoren, auf die Butler sie bezieht. Dann habe ich vielleicht bessere Chancen, sie wirklich zu verstehen. Aber im Moment bin ich mit anderen Dingen beschäftigt. (Diese Nacht hoffe ich, meinen Blogpost zur Debatte zum Adornopreis zu vollenden.)
      Hier zwei Links zu Luise Pusch:
      Brauchen wir den Unterstrich? Feministische Linguistik und Queer Theory, Teil 1
      Sind Lesben Frauen? Feministische Linguistik und Queer Theory, Teil 2
      Im zweiten Teil findest du am Ende ein paar Bemerkungen zu Foucault:

      Ich hatte – von dem her, was ich über Foucault gelesen hatte – schon immer das Gefühl, daß seine Arbeiten überaus wichtig für die Queer Theory sind, das heißt – und so würde ich es genannt haben, bevor Queer Theory entstand – für den Versuch, meine Situation wenigstens theoretisch “in den Griff zu bekommen”, die Art von Leben, die ich zu leben gezwungen wurde, wenigstens intellektuell zu “meistern”. Aber ich war unfähig, Foucault zu lesen; ich konnte in seine hermetisch–verworrene Schreibweise einfach nicht eindringen, konnte nicht verstehen, was er mir vielleicht Wichtiges zu sagen hatte. Foucault-Lektüre machte mich entweder ärgerlich, oder sie langweilte und deprimierte mich.

      Und hier ist eine Bemerkung, die noch vernichtender ist:

      Der akademische Feminismus der USA verdankt vieles dem französischen Feminismus von Theoretikerinnen wie Kristeva, Irigaray, Cixous, Wittig. Der französische Feminismus verdankt vieles dem Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktionismus (Lévy–Strauss, Barthes, Lacan, Derrida). Beide Schulen gehen zurück auf Ideen de Saussures und einiger anderer Linguisten/Strukturalisten wie Jakobson und Trubetzkoy, ohne sie unbedingt verstanden zu haben. Sie haben sich einfach einige Werkzeuge der europäischen strukturalistischen Linguistik ausgeliehen (z.B. aus der Phonologie die Begriffe ‘Markiertheit’ und ‘Unmarkiertheit’) und benutzten sie für Aufgaben, für die sie nie gedacht waren. Wenn ich als Linguistin all diese hochtheoretischen Elaborate lese, habe ich nicht selten den Eindruck, einer Blinddarmoperation beizuwohnen, durchgeführt von einem beherzten Team von PsychologInnen, HistorikerInnen, AnthropologInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen und PhilosophInnen, die bedeutungsvoll mit einem Operationsbesteck herumhantieren, das eigentlich für Gehirnchirurgie gedacht war.

      • Chomsky schreibt:

        Zu den Primär- und Sekundärtexten: Ich weiss nicht, ob Du sehr viel schneller vorwärts kommst, wenn Du die Personen liest, auf die sich Butler bezieht.

        Ich sehe das ein bisschen bei Bourdieu: Bourdieu bezieht sich auf die unterschiedlichsten Theorietraditionen und Personen: Marx, Weber, Durkheim, Elias, Foucault, Wittgenstein (Sprachphilosophie), Chomsky, Cassirer, Marcel Mauss, Austin (Sprachpragmatik), Strukturalismus, Poststrukturalismus, Phänomenologie, Ethnomethodologie (Cicourel, Garfinkel, Schütz, Goffman etc.), Bachelard und Canguilhem (Wissenschaftstheorie), Sartre, Merleau-Ponty, Spinoza, Leibnitz, Kant, Derrida, Pascal – um vielleicht mal die Wichtigsten zu nennen.

        Wenn Du die alle lesen willst, dann wirst Du gut und gerne 10 Jahre verbringen, bist Du das alles ordentlich verstanden hast! 🙂

        Für mich war es nützlich, dass ich ein paar wenige Personen ganz gut studierte und somit eben dann auch viel über die Theoriebezüge und Personen lernte, worauf sich diese Personen beziehen.

        Aber noch zu Luise F. Pusch und den Linguisten, ich glaube, Tove Soiland würde dem wohl zustimmen, was Bourdieu schreibt:

        „Durch die Sprachphilosophen, vor allem Austin, angerecht, haben sich die Linguisten gefragt, woran es liegt, dass die Wörter handeln, woran es liegt, dass, wenn ich zu jemand sage: ‚Öffne das Fenster’, er das Fenster öffnet. Oder wenn ich nun ein alter englischer Lord bin, der am Wochenende seine Zeitung liegst, dann reicht es, wenn ich sage: ‚John, finden Sie es nicht ein wenig kühl?’ und schon macht John das Fenster zu. Anders gesagt, wie kommt es, dass die Wörter Wirkungen erzeugen? Das ist eine ganz erstaunliche Sache, wenn man darüber nachdenkt. Es ist schlicht und einfach Magie, und wenn man dieses Handeln per Distanz, ohne physischen Kontakt, begreifen will, muss man, wie im Fall der Magie, die Marcel Mauss untersucht hat, den gesamten sozialen Raum reproduzieren, in dem die Dispositionen und Glaubenshaltungen zustande kommen, die solche magische Wirksamkeit ermöglichen.“

        „Aber wie im Fall der Magie muss man sich fragen, wo das Prinzip dieses Handelns, dieses Einflusses liegt; oder genauer, welches die sozialen Bedingungen sind, die die magische Wirksamkeit der Wörter ermöglichen. Macht üben Wörter nur übe jene aus, die disponiert sind, sie zu hören und zu verstehen, kurz, ihnen Glauben zu schenken.“

        „In der Politik ist nichts realistischer als der Streit um Worte. Ein Wort durch ein anderes zu ersetzen heisst, die Sicht der sozialen Welt zu verändern und dadurch zu ihrer Veränderung beizutragen.“

        „In Bezug auf die soziale Welt ist die neokantianische Theorie, die der Sprache und allgemeiner den Repräsentationen eine genuin symbolische Wirksamkeit der Realitätskonstruktion zuschreibt, durchaus fundiert.“ (Bourdieu, Pierre 1993: 54 ff.)

        Mir scheinen hier bei Bourdieu zwei Dinge sehr wichtig zu sein, wenn es um die Sprache und ihrer Wirkung geht:

        1. Wenn Bourdieu schreibt: „Macht üben Wörter nur über jene aus, die disponiert sind, diese zu hören, zu verstehen und ihnen Glauben zu schenken.“ Wörter oder Signifikanten bewirken allein überhaupt nichts, es braucht immer die menschliche Praxis dazu und vor allem Menschen, die dazu sozialisiert wurden, gewisse Wörter auch zu erkennen und anzuerkennen. Der Erkenntnisvorgang der Erkennung und Anerkennung und somit auch dem Glauben und der Legitimation sind hier zentral.
        2. Und um zu verstehen, wie diese psychischen Dispositionen zustande kommen, damit Wörter diese Wirkung erzeugen können, muss auch der gesamte soziale Raum (also die gesellschaftlichen Verhältnisse/die gesellschaftliche Ordnung) analysiert werden. Eigentlich könnte man sagen: Sprache/Wörter/Signifikanten sowie soziale Verhältnisse (ökonomische, politische, soziale, kulturelle Ordnung) sowie Subjekt (psychische Dispositionen) in ihrer Synthese ergeben dann erst die Wirkung von Wörtern.

        Aufschlussreich wäre also immer, wie das Symbolische (Wörter, Sprache, Zeichen, etc.) das Subjekt und gesellschaftliche Verhältnisse affiziert und umgekehrt.

        • susanna14 schreibt:

          Ich habe jetzt nicht vor, Bourdieu zu diskutieren. Luise Pusch hat Linguistik studiert und auch eine akademische Karriere als Linguistin gemacht. (Ich weiß nicht, wie weit sie gekommen ist.) Bourdieu ist zwar berühmter als Luise Pusch, aber so viel ich weiß, ist er kein Linguist. Ich würde einen Text, den Judith Butler über Quantenphysik schreibt, auch nicht lesen, weil ich mehr Ahnung von Quantenphysik habe als sie, auch wenn sie berühmter ist als ich. Und mittlerweile denke ich auch, dass ich mehr Ahnung vom Nahost-Konflikt habe als sie, obwohl ich weniger berühmt bin.

          Luise Puschs Text ist klar und verständlich. Warum diskutieren wir nicht erst einmal den?

          Was das Verständnis von Butler anbelangt: Ich habe „Raster des Krieges“ aus dem Schrank geholt, und ich verstehe jetzt besser, was sie sagen will. Es liegt vor allem daran, dass ich bei den Politikwissenschaftlern eine Definition des Wortes „Framing“ gelernt habe und daran, dass ich eben jetzt „Gender Trouble“ kenne – und daran, dass ich mit der Ausganghypothese an den Text herangehe, dass sie nicht logisch argumentiert, sondern Unsinn redet, um die Menschen zu verwirren, genau wie sie es in der Debatte um den Adorno-Preis getan hat. (Dort hat sie allerdings auch dreist gelogen.)

          Es ist also nicht so schwer, wie du sagst: Mit allem, was man liest, versteht man die nächsten Texte besser. (Mein kleiner Bruder, ein Historiker, hat mir mal den Rat gegeben, Hegel zu lesen: „Halte dich nicht mit der Sekundärliteratur auf. Man muss es halt dreimal lesen. um es zu verstehen, aber dann versteht man es auch.“

          • Chomsky schreibt:

            Sagt ja nimend, Du sollst nun Bourdieu diskutieren. Und geht m.E. auch nicht darum, wer, was, wie und warum studiert hat und wie viel er von dem oder jenem weiss oder berühmter oder weniger bemüht ist. Wichtig ist, zumindest für mich, nur, ob ich etwas für richtig oder falsch erachte! 😀 Übrigens: Bourdieu habe ich nicht angefangen zu lesen, weil er wohl neben Habermas, Luhmann, Giddens und Beck der zeitgenössisch einflussreichste Soziologe ist, sondern weil ich ein Sekundärtext über seine Klassentheorie etc. gelesen habe. Das Gleiche gilt für Foucault. Obwohl Habermas und Beck sehr einflussreiche Soziologen sind, finde ich ihre Bücher für nicht sehr überzeugend. Und Norbert Elias war jahrzehntelang in der Soziologie kein Thema wert und m.E. auch heute noch eher verkannt, aber das ist für mich kein Grund, ihn nun nicht gründlich zu lesen und immer wieder zu rezipieren.

            Mein Impetus war der, dass ich eine reine sprachliche Analyse, sei dies eine eher linguistische Analyse oder auch eine reine Diskursanalyse für reduktionistisch halten würde, ich also sagen würde: Sprachphänomene sind wichtig, aber sie sollten nicht isoliert betrachtet werden, weil es dazu führen kann, gewisse Phänomene, wie z.B. Gewalt, Krieg oder Konflikte etc. nicht interdisziplinär zu betrachten, das war mal quasi mein Hauptanliegen gegenüber gewissen LinguistInnen und DiskursanalytikerInnen.

            Ja, jeder hat einen anderen Zugang zu schwierigen Primärtexten. Ich gehe über die Sekundärliteratur, weil das für mich der schnellste Weg ist, die Primärtexte dann auch sehr schnell – und wie ich meine – sehr gut zu verstehen.

            Zu Luise F. Pusch!

            Was soll ich gross diskutieren: Luise F. Pusch wird wohl erst zufrieden sein, wenn keine Geschlechtskategorien mehr in der Sprache gebraucht werden oder besser gesagt nur noch ein Neutrum, was ich ja auch noch für sinnvoll finden würde, weil dann fühlen sich wohl die unterschiedlichsten Kategorien noch am wenigsten diskriminiert. Ja, von daher: Neutralisierung der Sprache, da kann ich Luise F. Pusch vollständig zustimmen. Aber viel mehr gibt es dann schon nicht mehr zu diskutieren, weil für mich der Fall klar ist. 🙂

            • susanna14 schreibt:

              Das ist etwas, was ich dich schon lange fragen wollte: Was ist eigentlich dein eigener Background? Du hast sehr vieles gelesen und scheinst auch intelligent zu sein, aber dann hast du mich doch mit Anfängerfehlern erstaunt, etwa, dass du bei dem Artikel in der Jungle World nicht auseinandergehalten hast, was die Position der Autoren ist und wo sie Judith Butlers Position referieren.

              Mir ging es um den Teil, wo Luise Pusch sich kritisch zu Queer Theory äußert.

              • Chomsky schreibt:

                Ich glaube, Du hast mich falsch verstanden beim Artikel in Jungle World. Ich habe es m.E. schon richtig verstanden, aber ich glaube, Du hast gemeint, dass ich es falsch verstehe! 🙂 Nein, das ist jetzt keine Rabulistik, ich hatte sofort das Gefühl, dass Du meintest, ich könne die Positionen nicht auseinanderhalten.

                Zur Queer-Theorie und der Kritischen Theorie. Ich habe, als Du Tove Soiland erwähntest, noch einmal einen Artikel im Netz von ihr gelesen, wo sie eben auch irgendwie die Queer-Theorie angreift und der Queer-Theorie vorwirft, dass diese keine Unterscheidung zwischen Kategorien und Verhältnissen macht. Ich fände es übrigens interessant, einmal, wenn Du auch Zeit und Lust hast, den folgenden Artikel zu diskutieren:

                https://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/694/702

                Ich habe dann ein bisschen am Text herumgehirnt, aber das braucht Zeit, aber ich glaube, ich könnte mich weder der Queer-Theorie noch der von Soiland ganz anschliessen. Ich muss natürlich schon sagen, dass ich irgendwie Bourdieuaner bin, wenn ich mich kategorisieren sollte/wollte, obwohl ich auch bei Bourdieu Einiges falsch finde: z.B. halte ich seine Wissenschaftssoziologie für teilweise falsch! 🙂

                Aber: Bourdieu bezeichnet sich als einen strukturalistischen Konstruktivisten oder konstruktivistischen Strukturalisten. Soll folgendes heissen: Der Strukturalismus negiert die Geschichte, also das Historische und er negiert somit auch das Subjekt, also den Konstruktionscharakter der Realität. Zudem, und im Gegensatz zum Poststrukturalismus, negiert der Strukturalismus die Instabilität oder auch Mehrdeutigkeit der Sprache und hier wären wir dann auch bei Derrida, Butler, Foucault etc.

                Strukturalistischer Konstruktivist meint aber auch, dass aussersprachliche Phänomene das Sprachliche beeinflussen und vice versa. Aber eigentlich bevorzuge ich folgenden Mehrebenen-Ansatz:

                intrapersonale Ebene: ontogenetische und pyhlogenetische Prozesse sowie psychogenetische Prozesse, Entwicklungspsychologie

                Mikroebene: Interaktionen, Gruppen, Sozialpsychologie, interkationistische und interpretative Soziologie

                Mesoebene: Institutionen: z.B. politische Institutionen, Organisationen etc. politische Systeme, nationale politische Ordnung/Systeme

                Makroebene: Politische Ökonomie: Fordismus, Postfordismus, Kapitalismus, Feudalismus, Weltordnung

                Repräsentationebene: Symbolische Ordnung: Kulturelle Ordnung, Diskurse, Sprache, Ideologie, kulturelle Hegemonie etc.

                Aber ich denke: Tove Soiland ist schon auf der richtigen Spur, obwohl Sie es ev. noch nicht so richtig fassen kann. Wenn ich mal mehr Zeit habe, dann werde ich mich mit dem Text noch einmal ausführlich befassen und wenn mir eine schlaue Kritik einfällt, dies dann auch sagen. Weil wie gesagt: Ich finde, sie ist auf der richtigen Spur und trotzdem bin ich nicht ganz zufrieden, was sie schreibt, aber das ist eher so etwas Intuitives.

                Und zu Luise F. Pusch und der Queer-Theorie: Ja, also, denke, das hat ev. auch ein bisschen mit subjektiven Befindlichkeiten zu tun. Ich kann ihre Kritik verstehen und würde es eher auch so sehen, aber gut, hier gibt es wohl kein objektives „wahr oder falsch“, weil die Queers werden eben gewisse Dinge anders gewichten. Wie es m.E. eben keine universalen Letzbegründungen für Normatives gibt: Unterschiedliche Menschen werden eine moralische Frage eben auch immer wieder ein bisschen anders gewichten: Könntest Du ja gut am Schwangerschaftsabbruch studieren: Soll Schwangerschaftsabbruch legal sein? Und wenn ja, bis zu welcher Woche? 6, 10, 15, 30??? Wie steht es mit der Gentechnologie? Wie mit Atomkraftwerken? Wie mit humanitären militärischen Einsätzen?

  10. Pingback: Zum Adorno-Preis für Judith Butler I: warum die Kritik an Judith Butler völlig gerechtfertigt ist | susanna14

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